Kinder und Jugendliche brauchen zuallererst Ihre Ehrlichkeit, damit die Vertrauensbasis nicht verletzt oder wieder hergestellt wird. Erklären Sie, dass Symptome ein Zeichen einer Überlastung des Systems sind. Erklären Sie, dass es nicht darum geht, dass es schuld sei und deshalb behandelt werden müsse, sondern dass die Familie Beratung durch einen Facharzt sucht. Erklären Sie dass dabei verschiedene Empfehlungen herauskommen können wie z.B. Medikation, Psychotherapie oder ein Erziehungshelfer. Es ginge aber nicht darum, gegen seinen Willen oder den der Familie etwas zu übernehmen, sondern sich die Sichtweise des Spezialisten anzuhören, um eigene Erkenntnisse daraus zu gewinnen.
Wie läuft so ein Termin ab?
Prinzipiell muss man sagen, dass es nicht alle Kinder- und Jugendpsychiater gleich machen. Während die einen mehrere kurze Termine anbieten, wollen wieder Andere ein langes Erstgespräch mit Erhebung aller wichtigen Informationen gleich in einem Termin. Ich gehöre zur zweiten Sorte und erlaube mir, den Ablauf in meiner Praxis als Beispiel darzustellen, einfach, damit Sie ein Bild davon bekommen, wie das ablaufen kann.
Ein Erstgespräch dauert in meiner Praxis eineinhalb Stunden, in besonders komplexen Fällen (z.B. bei autistischen Patienten mit Behinderung) auch länger. Teilnehmen sollen Ihr Kind und Sie oder Ihr Kind und ein Betreuer der Wohneinrichtung, in der es fremduntergebracht ist (in den Fällen, in denen Kinder von einer sozialpädagogischen Wohngemeinschaft betreut werden).
Im ersten Teil des Gesprächs dreht es sich um die derzeitige Situation des Kindes. Die Symptomatik wird anhand meiner Fragen geklärt. Mögliche Ursachen auf körperlicher, psychologischer und sozialer Ebene werden ausgelotet. Bisherige Behandlungserfahrungen mit ihren Erfolgen und Misserfolgen werden diskutiert. Manchmal verwende ich standardisierte Fragebögen, um spezifische Symptomatiken wie Zwangsverhalten, Ticstörungen oder ADHS-Symptomatik genauer erfassen und in ihrer Ausprägung messbar zu machen. Diese Messungen dienen dann in weiteren Terminen als Basis zur Messung des Behandlungserfolges.
Im zweiten Teil des Gesprächs geht es um die Behandlungsplanung.
Drei Ebenen der Behandlung sind möglich: Interventionen auf körperlicher, psychologischer und sozialer Ebene.
Auf der körperlichen Ebene spielen verschiedene Faktoren eine Rolle:
Sonnenlicht, Ernährung, Genetik, Körperkontakt, tägliche Bildschirmzeit und natürlich existiert auch die Möglichkeit, Medikamente einzusetzen. Dabei spielt die komplexe Ausgangslage in Gehirn und Körper eine Rolle für die Wirkung einer Substanz. Wirkung und Nebenwirkungen sind nicht sicher vorhersehbar, aber können vermutet werden aufgrund der Information, die wir im ersten Teil des Gesprächs erarbeitet haben.
Auf der psychischen Ebene spielen ebenfalls mehrere Faktoren eine Rolle:
Die Fähigkeit eines Kindes, sich selbst zu beruhigen; seine Selbstwertregulation; die Fähigkeit, mit Frustration umzugehen; die Fähigkeit, sich in andere Menschen einzufühlen und deren Standpunkt zu verstehen; die Fähigkeit, das eigene Selbst wahrzunehmen und dessen intuitive Stimme nicht mit momentanen Impulsen zu verwechseln, etc.
Die typisch westliche Intervention hierfür ist Psychotherapie. Es gibt in Österreich derzeit meines Wissens nach 21 anerkannte psychotherapeutische Schulen, die mit verschiedenen Grundhaltungen, Krankheitskonzepten und Lösungsideen an Situationen herangehen. Jede davon beachtet einen wichtigen Aspekt der menschlichen Psyche besonders, jede fokussiert auf ihre eigene Art auf bestimmte Problembereiche und Lösungsansätze. Die in der Psychotherapie gesteckten Ziele sind schon unter den verschiedenen Psychotherapieformen sehr unterschiedlich: während die einen z.B. versuchen, möglichst effizient und schnell Symptome zu beseitigen, versuchen andere Methoden, die Symptome als Möglichkeit zu persönlichen Wachstum zu nutzen. Unterschiedliche Ziele brauchen unterschiedliche Methoden und dementsprechend verschieden kann das Erlebnis und Ergebnis einer Psychotherapie ausfallen. Auch die Dauer ist vom definierten Ziel abhängig.
Auf der sozialen Ebene können Familientherapie, Elterncoaching, Fremdunterbringung, Helferkonferenzen, Familienkonferenzen und alle Interventionen, die das Jugendamt zur Unterstützung von Familien anzubieten hat, eingesetzt werden. Der Kinder- und Jugendpsychiater ist ein Partner in ihrem Helfersystem, dessen definierte Aufgaben Diagnose und Interventionsplanung umfassen. Dennoch soll und kann ein Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie immer nur genau eines sein: Ihr Berater auf einem Weg, der auf herausfordernde Art zu persönlichem Wachstum und Weiterentwicklung der Familie und ihres Kindes führt; ein Begleiter auf schwierigen Wegen.
Christian Popow
ao. Univ. Prof. Dr. Christian Popow
ist als Facharzt für Kinder- und Jugendheilkunde und Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie als Psychotherapeut (kognitive
Verhaltenstherapie) tätig an der Ambulanz der Univ. Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Medizinischen Universität in Wien. Seine wissenschaftlichen Interessen betreffen Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapieforschung, insbesondere Tic- und Zwangserkrankungen, ADHD, Autistische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten von Vorschulkindern sowie medizinische Computeranwendungen, insbesondere Expertensysteme und visual analytics. Er ist auch engagiert in der Plattform "Politische Kindermedizin" (www.polkm.org), die sich mit Versorgungsproblemen der Kinder- und Jugendmedizin beschäftigt.
Ass. Prof. Dr. Susanne Ohmann
ist als klinische Psychologin und Psychotherapeutin (kognitive Verhaltenstherapie) tätig an der Ambulanz der Univ. Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Medizinischen Universität Wien. Ihre wissenschaftlichen Interessen betreffen Psychotherapieforschung und klinische Testpsychologie. Sie ist auch Lehrtherapeutin der Österreichischen Gesellschaft für Verhaltenstherapie.
Behandlung und Bewältigung
Co Autor: Susanne Ohmann
Gerade bei der Behandlung psychischer Erkrankungen zeigt sich, dass Kinder keine „kleinen Erwachsenen“ sind: entwicklungsentsprechender Zugang und Methodik, die Berücksichtigung ihrer ebenfalls entwicklungsabhängigen Konzepte und Krankheitsmodelle, ihre besondere Einbindung in soziale Systeme, denen sie meist machtlos ausgeliefert sind, ihre vor allem emotionale Abhängigkeit von nicht austauschbaren primären Bezugspersonen, ihr sehr individuelles Ansprechen auf Medikation (wobei wir gerade über diesen Bereich am wenigsten wissen), die gerade im Kinder- und Jugendlichenbereich alles determinierende externe Abhängigkeit, die politisch bedingte, verantwortungslose Ressourcenknappheit, und die oft lebenslangen Konsequenzen von Erfolg und Scheitern der Therapie sind die wesentlichen Themen und eine Quelle stetiger Herausforderung.
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