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Stillen – Der autonome Weg zur frühkindlichen Bindung

von Ursula Henzinger

Elternbildung
Elternbildung
Elternbildung

Stillen beginnt mit Beziehung-Finden und endet mit einem teilweise wieder Beziehung-Lösen. Im einen wie auch im anderen liegen oft große Herausforderungen für Eltern. Stillen kann unglaubliches Glück, aber schon im nächsten Augenblick Verzweiflung bedeuten. Es löst oft starke Gefühle aus: Hilflosigkeit, Angst und Panik, wenn sich das Kind nicht beruhigen lässt, wenn es mehr Nähe braucht als geplant, es viel schreit und wenn sich das alles wie eine Ewigkeit anfühlt. Auf Schritt und Tritt begleiten jede Mutter und jeden Vater dabei ihre eigenen Erfahrungen mit Körperkontakt und Bemutterung, aber auch die Lebenserfahrungen ihrer Eltern und Vorfahren; ob sie das gut finden oder nicht.

Beruhigt sich die Aufregung und fühlt sich das Stillen leicht an, dann ist die Verbindung zum körperlichen Erbe unmittelbar und kraftvoll spürbar – sind es doch die uralten angeborenen physiologischen Vorgänge, durch die ein Stillkontakt gelingt. Ist Stillen dagegen mühsam und unangenehm, dann sind es oft alte Verletzungen, alte Ängste, alte Vorurteile und unrichtige Vorstellungen, die eine angemessene Nähe-Distanz-Regulation blockieren und spontane mütterliche Reaktionen verhindern. All diese Erfahrungen zusammengenommen sind es aber, die zu einer ganz persönlichen unverwechselbaren Bindung zwischen Mutter und Kind – und auf andere Weise auch die Bindung zwischen Vater und Kind – führen. Bindung ist das Ergebnis von Zuwendung, die Zeit kostet, von unzähligen kleinen verlässlichen, wohltuenden und Vertrauen stiftenden Erfahrungen durch Schwierigkeiten hindurch.

Stillen kann auch einfach und natürlich sein. Ursprünglich war der Mensch als Jäger und Sammler unterwegs. Rund vier Jahre lang wurde das Kind gestillt und entweder von der Mutter oder dem Vater am Körper getragen, bis es selbst essen und laufen konnte. Jahrelang waren also die Eltern in der Sorge um das Kind eng aneinander gebunden. Unterstützt wurde diese besondere Bindung durch die typisch menschliche Sexualität, die von Zärtlichkeit und vertrauensvoller Bindung geprägt ist.

Mit der Sesshaftigkeit veränderte sich die Kind-Mutter-Vater-Beziehung erstmals, es gab erste Irritationen in der Kind-Mutter-Vater-Bindung, die Stillbeziehung blieb jedoch weitgehend harmonisch. Die mütterliche Kunst des Stillens wurde weiterhin auf unspektakuläre Weise durch Erleben und Miterleben von einer Generation an die andere weitergegeben. Noch in den 1970er Jahren gab es in unterschiedlichen Teilen der Erde Völker, die in kleinen Gruppen auf jungsteinzeitlichem Niveau ohne Schrift und Schichtung der Gesellschaft lebten. Es gibt detaillierte Forschungsberichte über Geburt und Stillen aus diesen „traditionalen Kulturen“. Diese sind wichtig, damit man sich vorstellen kann, was Babys erwarten und wie die Lebenswelt von – mit Leichtigkeit – stillenden Mütter aussieht.

Bedingungen für Eltern in traditionalen Kulturen

  • Mütter und Väter haben am eigenen Körper erlebt und haben vielfach bei anderen gesehen, was sie für ihr Kind tun
  • Mütter erleben nach einer selbstbestimmten Geburt eine großzügige Wochenbettzeit mit ihrem Baby, in der sie von vertrauten Frauen versorgt werden
  • Frauen gewinnen als Mütter an Ansehen und sind mit ihrem Baby im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit
  • Mütter bleiben mit ihrem Baby im gewohnten Umfeld und bei gewohnten Tätigkeiten
  • Mütter und Väter haben beide eine zärtliche Beziehung zum Kind
  • Es ist immer jemand da, dem Mütter ihr Baby oder Kleinkind – so lang dieses will – anvertrauen können

Wie anders ist das für stillende Mütter in westlichen Industriestaaten! Zwar war der Mensch noch nie so unabhängig von seiner Umwelt und von den Grenzen, die sich aus Lebensgeschichte und individueller Verfassung ergeben. Noch nie gab es so viel Wissen. Trotzdem sind die Bedingungen für stillende Mütter von vorneherein nicht besonders gut.

Bedingungen für Eltern in pluralistischen Kulturen

  • Es gibt viele unterschiedliche Vorstellungen davon, wie sich eine Mutter, ein Vater, verhalten sollte
  • Mütter und Väter haben selbst oft nicht bekommen, was sie ihrem Kind geben
  • Mütter haben nach einer anstrengenden Entbindung oft einen schwierigen Start in der meist ganz neuen Mutterrolle
  • Mütter verlieren manchmal die Verbindung zu ihrem früheren Leben und vereinsamen
  • Stillende Mütter bekommen oft wenig Unterstützung und Anerkennung
  • Es wird oft als Störung klassifiziert, was physiologisch ist (z.B. kurze Stillabstände, Einschlafen an der Brust, häufiges Aufwachen in der Nacht)
  • Eltern haben mit kulturgebundenen Syndromen zu kämpfen (z.B. Schlafprobleme, Geburtstrauma, „Babyblues“, postpartale Depression, anhaltendes Babyschreien)

Zu diesen Veränderungen gibt es eine lange Geschichte.
Stillen ist wie die Geburt ein Prozess, der sich schon rund 100 Millionen Jahre lang bei Säugetieren bewährt und ohne Unterstützung und Anleitung von außen funktioniert. Das Säugetierweibchen sucht nach einer Möglichkeit zum Rückzug, sondert sich von der Gemeinschaft ab und bereitet die Umgebung vor. Ruhig und entspannt überlässt es sich dann dem, was ihre Jungen und ihr Körper aus sich heraus machen. Die konzentrierte Gelassenheit der Mutter ist für die Jungen lebensnotwendig. Kommt Stress ins Geschehen, entgleist die synchrone passgenaue Kommunikation. Auch beim Menschen funktioniert Stillen auf autonom-körperliche und dialogische Weise schon rund 3 Millionen Jahre lang. Die Mutter muss eigentlich gar nichts wissen, denn das Kleine bringt alles mit, was Menschen seit jeher das Überleben sichert: das angeborene Bindungsverhalten.

Viele Menschen glauben, dass die Bedingungen für stillende Mütter in unserer kulturgeschichtlichen Vergangenheit besser waren als heute. Das waren sie nicht! Schon als die Menschheit sesshaft wurde, vor rund 12 000 Jahren, gab es Veränderungen am „evolutionären Modell“: Kürzere Geburtsabstände, ein verzögerter Stillbeginn durch ein sogenanntes Kolostrum-Tabu, frühzeitiges Entwöhnen und eine – im Vergleich zur Jäger-Sammler-Kultur – erhöhte Säuglingssterblichkeit.

Ab der späteren Jungsteinzeit und den ersten Hochkulturen vor rund 5000 Jahren mit Ackerbau, Viehzucht und Vorratshaltung entstand so etwas wie eine Wachstumsideologie der Besitzenden auf Kosten der Armen. Durch kürzere Geburtenabstände kamen mehr Kinder zur Welt, die zum Teil mit Tiermilch und von Ammen ernährt wurden. Schon diese frühen Abweichungen vom ursprünglichen – über Millionen von Jahren optimierten Modell – waren mit weiteren gesellschaftlichen Veränderungen und für die Individuen mit Entgleisungen der fein abgestimmten psycho-physiologischen Abläufe rund um Geburt, Stillen und Sexualität verbunden.

Später, in Stadtkulturen verschiedener Epochen (im alten Ägypten, Griechenland, Rom und in unserem Mittelalter) und Länder ging man mit Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett und früher Kindheit jeweils anders um, aber überall gibt es Vorschriften, Bräuche und Zwänge. Häufige Geburten, zunächst nur in der Oberschicht, später in der Mittel-, schließlich in der Unterschicht der Gesellschaft, schwächten die Frau, machten sie und ihr Baby abhängig und hilflos. Mütter und Babys wurden nach der Geburt getrennt, die Mutter lag untätig im Wochenbett, ihr Baby wurde von anderen versorgt. Viele konnten unter diesen Bedingungen nicht stillen.

Schon vor langer Zeit sind Mütter beim Stillen verzweifelt, eine Tatsache, die bis vor rund 100 Jahren für das Kind lebensbedrohlich war. Lösungsversuche für dieses Dilemma führten nicht selten zu weiteren Schwierigkeiten, halfen aber, die physiologischen Vorgänge bei Geburt und Stillen nach und nach zu entschlüsseln. Erst vor etwa 150 Jahren begann man die saubere, immunisierende und optimal zusammengesetzte Muttermilch als solche zu schätzen. Man erkannte die lebensrettende und heilende Wirkung des Stillens. Inhaltsstoffe der Muttermilch wurden analysiert und die Ergebnisse veröffentlicht, um auf den besonderen Wert der Muttermilch aufmerksam zu machen. Das Wissen über die wertvolle Muttermilch nützte den Müttern zunächst recht wenig, setzte sie nur weiter unter Druck. Die damals enorm hohe Säuglingssterblichkeit begann erst zu sinken, als vor rund 100 Jahren verträgliche Fertig-Trockenmilch, hygienische Fläschchen, Gummisauger und wirksame Medikamente auf den Markt kamen!

Erst nach dem Sinken der Säuglingssterblichkeit fand man die nötige Distanz, um nach und nach auch den psychologischen Wert des Stillens zu entschlüsseln. Seit rund fünfzig Jahren entspricht das Still-Wissen mehr und mehr dem, was Mutter und Baby brauchen, um erfolgreich stillen zu können. Es ist auf jeden Fall entlastend, sich darüber klar zu werden, wie alt die Reglementierung der frühen Eltern-Kind-Bindung, die Entmündigung der Frau und die erlernte Hilflosigkeit des Babys schon ist. Das alles wirkt auch heute noch nach, wenn es Probleme gibt!

Die Respektierung der kindlichen Autonomie ist der Schlüssel für gute Lösungen. Hat die Mutter ausreichend Ruhe, Zeit, professionelle Information und ihre Umgebung gut vorbereitet, genügt es, die bewusste Kontrolle aufzugeben, sich dem angeborenen „Programm“ des eigenen Körpers zu überlassen und den Reaktionen des Babys zu vertrauen. Babys haben schon vor Jahrmillionen spontan die Mutterbrust gefunden und das koordinatorisch hoch komplexe Saugen, Atmen und Schlucken gelernt. Das wertvollste Wissen zum Stillen bringen sie mit auf die Welt, denn sie sind unbelastet von störenden Gedanken, Idealen und Versagensängsten. Damit man sich diese Kraft etwas konkreter vorstellen kann, finden sich unten die Zeitdistanzen in Längen umgerechnet.

Die Geschichte des Stillens (Maßstab 1 Jahr = 1 Millimeter)

  • 100 Millionen Jahre – 100 Kilometer (Stillen – Säugetiere)
  • 3 Millionen Jahre – 3 Kilometer („evolutionäres Modell des Stillens“ – Mensch)
  • 12 000 Jahre – 12 Meter (Kulturgeschichte)
  • 100 Jahre – 10 cm (Erfahrung mit Säuglingsnahrung)

Stillen ist Begegnung, Kommunikation, Selbständigkeit und davon getragen, mit „allen Sinnen da zu sein“. Häufiges Stillen und der damit verbundene frühe Hautkontakt unterstützen die notwendigen physiologischen Voraussetzungen für die frühkindliche Bindung, die es ohne die Autonomie des Babys und des mütterlichen Körpers nicht gibt. Entstehung und Aufrechterhaltung der Bindung sind mit der Ausschüttung von Hormonen und Neurotransmittern verknüpft, die durch körperliche Nähe ausgelöst werden und die der Mutter erst ermöglichen, die ungewohnt große Nähe zum Kind auch auszuhalten.

Früher Hautkontakt legt den Grundstein für verschiedene physiologische Kreisläufe beim Baby. Stillen dient nicht nur der Flüssigkeits- und Nahrungsaufnahme, sondern es dient auch zum Einschlafen, als Trost und der Beruhigung. Saugen erhöht den Sauerstoffgehalt im Blut, steigert die Sensibilität für äußere Reize und ermöglicht Mutter und Kind ein müheloses Einschlafen und Aufwachen. Lebendiger Schlaf schützt vor möglichen Gefahren: es lässt die Mutter schnell reagieren, wenn das Baby es braucht und hilft dem gesunden Baby, sich selbst zu schützen.

Stillen wirkt als vielfältiger sensorischer Input und beinhaltet Wärme, Hautkontakt, Zärtlichkeit, Geborgenheit, Schutz und Erleben der Selbstwirksamkeit in einem. Das Baby reguliert die Feinabstimmung von Nähe und Distanz und meldet damit der Bezugsperson ihre Befindlichkeit zurück. Wohlbehagen wie Unbehagen wird durch Resonanzphänomene verstärkt und stimuliert den Kontakt der Mutter zu sich selbst. So gelingt nach und nach eine für alle Beteiligten authentische Nähe-Distanz-Regulation. Über unzählige kleine körperliche Erfahrungen baut sich die verlässliche individuelle Bindung zwischen Mutter und Kind langsam auf. Zunehmend verlangt das Baby ausdrücklich nach der Mutter, je nach Temperament und Erfahrung oft schon viel früher als mit sechs Monaten: Ein Zeichen für den gelungenen Bindungsaufbau!

Veröffentlichungen von Ursula Henzinger:

Bindung und Autonomie in der frühen Kindheit. Humanethologische Perspektiven zu Bindungstheorie und klinischer Praxis. Psychosozialverlag, Gießen 2017

Stillen. Die Quelle mütterlicher Kraft. (Kulturgeschichte der frühen Eltern-Kind-Beziehung), Walter 1999


Linktipps

Stillberatung – La Leche Liga Österreich, https://www.lalecheliga.at/home/ (Stillgruppen, Telefon- und Email-Beratung)

Stillberatung bei schwierigeren Problemen – VSLÖ: https://www.stillen.at/eltern/stillberatung/

Beratung rund um den Schlaf: https://www.kinderschlafberatung.com/

Bei psychischen Krisen und Schwierigkeiten: https://www.emotionelle-erste-hilfe.at

„Die Geburt ist eine Heldenreise – Video von Thomas Harms (Begründer der EEH – Emotionelle Erste Hilfe): http://thomasharms.org/2016/04/11/video-beitrag-die-geburt-ist-eine-heldenreise-zdf-zoom/

Unglücklich trotz Baby: https://www.schatten-und-licht.de/index.php/de/


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