Der Pikler-Spielraum – eine Eltern-Kind-Gruppe der besonderen Art
Im Pikler-Spielraum entdecken Kinder im Alter von etwa 6 Monaten bis 3 Jahren eine altersgerecht vorbereitete Umgebung, die zu freier Bewegung und selbstbestimmtem Spiel einlädt – ganz ohne Eingreifen von Erwachsenen. Die Gruppen sind altershomogen zusammengesetzt. Zur Verfügung stehen Bewegungsgeräte wie Pikler-Dreieck, Krabbelkiste, Rundbogen, Hühnerleiter oder Kriechtunnel – sowie vielfältige Spielmaterialien wie Bälle, Körbe, Ringe oder Stapelhölzer.
Das Besondere: Die Eltern begleiten ihre Kinder durch aufmerksames Beobachten, ohne aktiv einzugreifen. So entsteht Raum, das eigene Kind in neuer Weise zu sehen – und ihm Schritt für Schritt mehr zuzutrauen.
Weniger eingreifen – mehr beobachten
Dieser Leitsatz der Pikler-Pädagogik eröffnet dem Kind vielfältige Lernchancen durch achtsame Begegnung und beziehungsorientiertes Handeln. Frühkindliche Förderung bedeutet hier:
- Stärkung der Eigenständigkeit
- Aufbau eines positiven Selbstbildes
- Entwicklung sozialer Kompetenz
Dies geschieht im Spielraum anhand der vier Pikler-Kategorien:
- Beziehungsvolle Pflege
Sprechen wir von Anfang an mit dem Kind und bereiten es auf unsere Handlungen vor, lernt es uns zuzuhören. Wird es aktiv in Pflegehandlungen einbezogen, erlebt es Kooperation. Ein Beispiel: ich möchte Lea die Anti-Rutsch-Socken anziehen – dabei zeige ich sie ihr vorher und sage, dass ich ihr jetzt diese Socken anziehen möchte und warte kurz ab, bis sie mit der Aufmerksamkeit bei mir ist. (So lernt sie zuhören.) Dann sage ich ihr, dass ich jetzt ihr Füßchen nehme und schau sie dabei an – setzte sie dann entweder auf meinen Schoß zum Anziehen oder – wenn sie schon größer ist – bitte ich sie um ihre Mithilfe. So erfährt Lea, dass sie aktiv mitwirken darf. Sie wird nicht einfach nur versorgt, sondern ist ein Teil des Geschehens. Das stärkt ihr Gefühl von Selbstwirksamkeit und zeigt ihr: „Ich kann etwas beitragen.“
- Autonome Bewegungsentwicklung
Ein Kind muss nicht an der Hand geführt werden, um gehen zu lernen. Wenn es die Möglichkeit hat, sich vom Liegen bis zum freien Gehen in seinem eigenen Tempo zu entwickeln, wird es sicherer in seinen Bewegungen und lernt, besser auf sich aufzupassen. Die Spiel- und Bewegungsgeräte im Spielraum sind so gestaltet, dass Kinder sie ihrem Alter und Entwicklungsstand entsprechend selbstständig nutzen können – ohne Hilfe eines Erwachsenen. So werden nicht nur motorische Fähigkeiten gefördert, sondern auch das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten gestärkt.
Ein Beispiel : Nora beginnt, am Pikler-Dreieck hochzuklettern. Ich setze mich in ihrer Nähe auf den Boden, halte Blickkontakt und lege meine Hände ebenfalls auf die Sprossen. So zeige ich ihr: Ich bin da, halte mich auch fest – greife aber nicht ein. Wird sie unsicher, sage ich ruhig: „Du kannst wieder runtergehen. Schau, hier ist die nächste Sprosse für deinen Fuß.“ Wenn nötig, helfe ich ihr leicht, sodass sie selbst weiterklettern kann.
So lernt Nora: Ich spüre, was ich mache. Ich darf auch umkehren. Sie erlebt ihren Körper bewusst und entwickelt Vertrauen in sich – wichtige Schritte auf dem Weg zu einem gesunden Selbstwertgefühl.
- Freies Spiel
Im Spielraum erlebt das Kind durch das freie Spiel eine ganzheitliche Förderung seiner frühkindlichen Entwicklung – in einem sicheren und entspannten Umfeld. Beim selbstgewählten Tun kann es logisches Denken aufbauen und erste Ursache-Wirkung-Zusammenhänge erkennen: „Wenn ich etwas stoße, fällt es um.“ Es sammelt Erfahrungen im Bereich der Statik: Was steht stabil, was kippt? Beim Schütten, Gießen oder Transportieren entwickelt sich ein erstes Mengenerleben.
All diese Erfahrungen stärken nicht nur die kognitiven Fähigkeiten, sondern fördern auch die Konzentration, Selbstständigkeit und innere Motivation. Das freie Spiel bietet somit eine natürliche Grundlage für die ganzheitliche Gehirnentwicklung des Kindes.
- Soziales Lernen
Kleinkinder stehen noch am Anfang ihres sozialen Lernens. Zum ersten Mal in einer Gruppe zu sein bedeutet: sich selbst im Verhältnis zu anderen zu entdecken – Wer bin ich? Wer sind die anderen? Dabei sind Konflikte ganz natürlich. Wenn wir es schaffen, Kinder in solchen Situationen auf Augenhöhe zu begleiten, können sie Schritt für Schritt soziale Kompetenzen im Miteinander entwickeln – nicht durch Belehrung, sondern durch Beziehung.
Ein Beispiel: Alex möchte das Lastauto, mit dem Pia gerade spielt, und versucht, es ihr wegzunehmen. Wenn beide Kinder bereits in einer Phase sind, in der sie einfache Regeln verstehen können, reagiere ich manchmal so: Ich lege meine Hand ruhig auf das Lastauto und sage zu Alex: „Damit spielt jetzt Pia. Bitte such dir ein anderes Auto.“
So erlebt Alex eine klare, aber respektvolle Grenze – und beide Kinder erfahren, dass ihre Bedürfnisse gesehen und ernst genommen werden. Das ist der Nährboden für erste Erfahrungen mit Rücksicht, Frustrationstoleranz und gemeinsamen Regeln.
Literatur:
- Daniel J. Siegel /Tina Payne Bryson: Disziplin ohne Drama, Achtsame Kommunikation mit Kindern, arbor 2021
- Aly, Werner, Zinser: Spielen und Lernen, Anregungen zur Frühpädagogik in Kinderkrippen, Pikler Gesellschaft Berlin
- Zimmer Renate(Hrsg.) Psychomotorik für Kinder unter 3 Jahren; Entwicklungsförderung durch Bewegung, herder 2012
- Pikler-Spielraum für Bewegung und selbständiges Entdecken ; Schriftenreiche der pikler-hengstenberg-gesellschaft österreich 2010
Ulrike Kneidinger-Peherstorfer
Diplomierte Elternbildnerin, Wirtschaftspädagogin,
Leiterin SPIEGEL-Elternbildung, Mutter von drei Kindern
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