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Normal sein dürfen – Kinder mit Hörbehinderungen

von Dr. Verena Krausneker

Elternbildung
Elternbildung
Elternbildung

Gehörlosigkeit kann man als Sinnesbehinderung und messbares Defizit betrachten. Ich bespreche Gehörlosigkeit in diesem Text vorrangig als kulturelles und linguistisches Phänomen mit Auswirkungen auf (Gruppen-)Identitäten. Denn für den familiären – und auch den gesellschaftlichen – Umgang mit einem hörbehinderten Kind macht es einen großen Unterschied, ob das Defizit im Vordergrund steht oder aber der Respekt vor dem „Anderen“.
>> Gut ist es, die „unsichtbare“ Sinnesbehinderung in der Familie und im Umfeld des Kindes offen zu besprechen, anzunehmen und zu leben. Denn alle anderen Wege (Verleugnung, Scham, Verstecken, Verschweigen) können über kurz oder lang zu Sackgassen werden – sowohl für den betroffenen Menschen als auch für die Eltern-Kind-Beziehung.

Worauf es ankommt: Kommunikation
Zweifellos bedeutet eine Sinnesbehinderung, dass man in vielen Bereichen des Lebens behindert wird. Für Alltagstätigkeiten haben sich die meisten hörbehinderten Menschen routinierte Kompensationsstrategien angeeignet oder technische Hilfsmittel zugelegt (Hörhilfen, Blinkklingel, Vibrationswecker, Zettel und Bleistift, Augenmerk auf andere Menschen, Fax, SMS, Chat, Videochat etc.) um akustische Signale wahrnehmen zu können. Prägend und bestimmend ist aber nicht, ob ein Kind Umweltgeräusche, z.B. Vogelgezwitscher, hört, sondern die Frage, ob und welche Auswirkungen die Hörbeeinträchtigung auf den natürlichen, ungesteuerten Spracherwerb hat. (Siehe dazu die Beschreibung.)

Hörbehinderten Kindern muss die Chance eines natürlichen (das heißt ungesteuerten, altersgemäßen, großteils unbewussten und im Vergleich mit dem Sprachenlernen Erwachsener ganz mühelosen) Spracherwerbs gegeben werden, egal in welcher Sprache (Deutsch, Türkisch, Österreichische Gebärdensprache,…). So lange die Sprache für ein Kind wirklich vollständig wahrnehmbar ist (durch Hören oder durch Sehen), ist sie sinnvoll.

  • Alle Kommunikationswege, die Kinder für sich finden, sind positiv und sollten unterstützt werden – das gilt selbstverständlich für hörende genauso wie für gehörlose/hörbehinderte Kinder. Denn die kindliche Selbstbestimmung in Bezug auf Kommunikationsfähigkeiten und Sprachwahl sollte uneingeschränkt respektiert werden.
  • Eltern und PädagogInnen können einen offenen Blick entwickeln, um die Wahl der selbst gewählten „Spontansprache“ eines Kindes zu bemerken. Wenn ein Kind einzelne Gebärden oder eine Gebärdensprache wie ÖGS verwendet, so ist das ein Hinweis auf die sprachlichen Präferenzen oder Nöte dieses Menschen und ist zu respektieren. Wird gebärdet, so sollte das aufgegriffen, unterstützt und gefördert werden

Der Europarat ist übrigens in seinen Expertenpapieren und anderen Dokumenten davon abgekommen, von „Deaf“ (gehörlos) zu sprechen, sondern nennt die Betroffenen seit einigen Jahren „Sign Language Users „(GebärdensprachbenutzerInnen). Dies ist Ausdruck der Selbstverständlichkeit, mit der gehörlose Menschen als VerwenderInnen einer bestimmten Sprache respektieren werden statt sie als defizitär zu klassifizieren.

Ein Audiogramm ist keine Weissagung
Nach allen Hörtests bleibt trotz relativ genauen Wissens um das Hörvermögen eines Kindes offen, wie sich die Sprachkompetenzen entwickeln werden und es bleibt vor allem offen, welche Sprachen es bevorzugen wird und welche Identitätsentwürfe im Jugend- und Erwachsenenalter wichtig werden.

Im Sinne der Selbstbestimmung des hörbehinderten Menschen möchte ich empfehlen:

  • Den Zugang zu gebärdensprachigen Umfeldern (siehe Verein Kinderhände) schaffen.
  • Andere Kinder mit Hörbehinderungen treffen.
  • Erwachsene Vorbilder mit Hörbehinderungen suchen und dem Kind Kontakt zu ihnen ermöglichen.
  • Möglichkeiten und Vielfalt an Lebenskonzepten für hörbehinderte Kinder aufzeigen.
  • Den selbstbewussten und ungehemmten Umgang mit dem eigenen ‚Sein’ erlernen lassen.
  • Mit dem Kind das aktive Einfordern von notwendigen Adaptionen und Anpassungen der Umwelt erlernen, um Behinderungen einzugrenzen.
  • Selbst offen bleiben und ehrlich abspüren, was das Kind eigentlich braucht (im Unterschied zu: was man sich wünscht, wie das Kind ist.)
  • Technische Hilfsmittel einsetzen und für alle Kommunikationsformen und Sprachen offen bleiben. Denn gehörlose/hörbehinderte Menschen sollten so gehörlose/hörbehindert sein dürfen, wie sie sind. Hilfsmittel dürfen keinen Druck erzeugen

Normierungsdruck
Eltern wünschen sich ‚normale’ Kinder. Dies äußerst sich oftmals zunächst im Nicht-wahrhaben-wollen und wird manchmal durch Verleugnung der Hörbehinderung zu erzwingen versucht. Aber was ist ein ‚normales’ Kind?
‚Norm’ entsteht durch die Mehrheit und sie wird als derart normal angesehen, dass sie kaum bewusst wahrgenommen wird. Bemerkt werden meist Abweichungen – wodurch Normen erst sichtbar, spürbar und benennbar gemacht werden. Es gibt globale Normen und solche, die in bestimmten Gesellschaftsschichten oder Gruppen herrschen. Zum Beispiel können wir Normen des menschlichen Körpers ablesen an Kleider- und Schuhgrößen, Möbeln, Architektur usw., die von einem gehenden, erwachsenen Menschen mit ‚Durchschnitts’umfang, -proportion und -größe ausgehen.
Eine der Hauptnormen, die Eltern gehörloser/hörbehinderter Kinder plötzlich merken, ist: Hören ist normal, Nicht-hören ist eine Abweichung. Einem Kind, das nicht hört, ‚fehlt etwas’. Dazu kommt, dass die Differenzierung zwischen Sinnesbehinderungen, Mobilitätsbehinderungen und Lernbehinderungen vielen Menschen nicht geläufig ist.

Der Normierungsdruck bei Hörbehinderung ist vor allem durch zwei Aspekte geprägt: 1) Die Abweichung von der Norm ist nicht sichtbar und daher mehr oder weniger leicht versteckbar/übersehbar. 2) Es gibt medizinisch-technische Maßnahmen, die die völlige Wiederherstellung versprechen.
Hoffnungsfrohe Beruhigungen von ÄrztInnen, die Hörbehinderung als „wegoperierbar“, oder „gut therapierbar“ vermitteln, bewirken im Grunde alle das Selbe: Sie markieren die Hörbehinderung als Problem und unterlaufen den Prozess des grundsätzlichen Annehmens des gehörlosen/hörbehinderten Kindes. Erst wenn Eltern ein ganzheitliches (nicht auf das Ohr beschränkte) Bild ihres gehörlosen/hörbehinderten Kindes finden, wird es möglich, dass sie sich mit ihm identifizieren können.
Auch in der Schule ist der Druck, ‚normal’ sein zu müssen oftmals sehr groß. Besonders einzeln integrativ unterrichtete Kinder werden – vor allem ab einem gewissen Alter – mehr oder weniger massiv von ihrer schulischen Alltagsumgebung mit ihrem ‚Anderssein’ konfrontiert. Als Symbole des Andersseins werden die Hörgeräte von manchen SchülerInnen unter Haaren versteckt oder ungern getragen oder sogar abgelegt, um der Stigmatisierung zu entgehen (obwohl sie doch faktisch „mehr“ hörend machen). Diese Kinder brauchen Unterstützung.

  •  Gehörlose/hörbehinderte Jugendliche sollten ermutigt werden, ein positives Selbstbild zu entwickeln und eigene Ziele anzustreben.
  • Der bewusste, positive Umgang mit der Hörbehinderung kann ermöglichen, dass Lebensentwürfe aufgezeigt werden, die chancengleich und gleichwertig mit hörenden Lebenswegen sind.
  • Erfolgreiche Lebenswege sollten unabhängig vom Hörstatus skizziert werden und gehörlose/hörbehinderte Jugendliche sollten mit ihren Rechten vertraut gemacht werden.
  • Gehörlose/hörbehinderte junge Erwachsene sollten ermuntert werden, sich die ihnen entsprechenden Plätze zu erarbeiten und nicht, jene anzunehmen, die ihnen von der Mehrheitsgesellschaft zugewiesen werden.

Voraussetzung für all dies ist die Möglichkeit, sichtbar gehörlos/hörbehindert sein zu dürfen und trotzdem als ‚normal’ wahrgenommen zu werden – also eigentlich eine inklusive, bewusst diverse Gesellschaft. Beginnen kann diese bei den Eltern von gehörlosen/hörbehinderten Kindern.

Dieser Artikel basiert auf Auszügen der Studie „Sprache Macht Wissen“ (Krausneker/Schalber 2007). Kostenloser Download hier.

Literaturtipps für Eltern:

Deutscher Gehörlosen-Bund e.V. (2011) Mein Kind. Ein Ratgeber für Eltern mit einem hörbehinderten Kind.

Fritsche, Olaf, Karin Kestner (2006) Diagnose Hörgeschädigt. Was Eltern hörgeschädigter Kinder wissen sollten. Verlag Karin Kestner.

Herrmann, Bettina, Hg. (2012) Bilingual aufwachsen. Gebärdensprache in der Frühförderung hörbehinderter Kinder. Berlin, Deutscher Gehörlosen-Bund.

Deutscher Gehörlosen-Bund e.V. (2016) „Sprachen bilden“. Bilinguale Förderung mit Gebärdensprache – Anregungen für die Praxis.
Kremer, Swen (2014) Eltern hörbehinderter Kinder – der Weg zu Bilingualität und Inklusion. Bildung für hörbehinderte Kinder barrierefrei zugänglich machen; eine Mammutaufgabe für Eltern. S. 82-90 in: Das Zeichen, Heft 96. Hamburg, Signum Verlag.

„Ich muss dir was sagen“ Film von Martin Nguyen (2008) in ÖGS & Deutsch mit dt. UT, DVD, bestellbar auf Amazon.

ÖGLB, Österreichischer Gehörlosenbund (2007) Die wichtigsten Fragen & Antworten zum Spracherwerb hörbehinderter Kinder. www.oeglb.at/shop/

Autobiografien gehörloser Menschen:

Axelrod, Cyril (2005) And the journey begins. Autobiographie. McLean Publisher.

Bollag, Fiona (2006) Das Mädchen, das aus der Stille kam. Bergisch Gladbach: Ehrenwirth.

Drolsbaugh, Mark (1999) Endlich Gehörlos! Autobiographie. Hamburg: Signum Verlag.

Hepp, Peter (2005) Die Welt in meinen Händen. Ein Leben ohne Hören und Sehen.

Berlin: List.

Jarmer, Helene (2011) Schreien nützt nichts. Mittendrin statt still dabei. Südwest Verlag.

Laborit, Emmanuelle (1995) Der Schrei der Möwe. Verlag Bastei Lübbe.

Oliva, Gina A. (2004) Alone in the Mainstream. A Deaf Woman Remembers Public School. Gallaudet University Press.

Tucker, Bonnie P. (1995) Der Klang von fallendem Schnee. Verlag Bastei Lübbe.


Literaturtipps für Kinder:

Franz-Joseph Huainigg und Verena Ballhaus (2005) Wir sprechen mit den Händen. Annette Betz Verlag

Verein Kinderhände:
Lernkoffer ‚Meine ersten 100 Gebärden’.
Stempelspiel „Mit den Händen stempeln“.
Jahreskalender mit Gebärdenrätseln. Alle unter http://www.kinderhaende.at/de/content/shop

ÖGLB, Österreichischer Gehörlosenbund (2003) ÖGS-Basisgebärden. Basisvokabular der Österreichischen Gebärdensprache. Wien

ÖGLB (2004a) Mein Fingeralphabet. Das Finger-ABC für Kinder. Wien

ÖGLB (2004b) Mein erstes Gebärdenbuch. Österreichische Gebärdensprache für Kinder. Wien

ÖGLB, Hg. (2004c) Mein Tor in die Welt der Gehörlosen. Ein Sachbuch für Kinder. Wien.


Links:

Verein Kinderhände: www.kinderhaende.at

Österreichischer Gehörlosenbund (ÖGLB): www.oeglb.at

Plattform Integration und Gebärdensprache: www.plig.at


Rechtliches:

Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen wurde inklusive Zusatzprotokoll von Österreich unterzeichnet und 2008 ratifiziert. Sie fordert unter anderem:
„… das Erlernen der Gebärdensprache und die Förderung der sprachlichen Identität der Gehörlosen“ zu erleichtern (Art. 24 (3) lit.b)) sowie „…, dass blinden, gehörlosen oder taubblinden Menschen, insbesondere Kindern, Bildung in den Sprachen und Kommunikationsformen und mit den Kommunikationsmitteln, die für den Einzelnen am besten geeignet sind, sowie in einem Umfeld vermittelt wird, das die bestmögliche schulische und soziale Entwicklung gestattet“ (Art. 24 (3) lit.c)).

Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen bedenkt auch die Identität der Gruppe:
„Menschen mit Behinderungen haben gleichberechtigt mit anderen Anspruch auf Anerkennung und Unterstützung ihrer spezifischen kulturellen und sprachlichen Identität, einschließlich der Gebärdensprachen und der Gehörlosenkultur.“ (Art. 30 (4))

Die sprachliche Identität von GebärdensprachnutzerInnen ist somit zu schützen und zu fördern. Ein zweisprachiges Leben in einer Lautsprache und einer Gebärdensprache ist durch die UN-Konvention gestützt.


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